Hierarchie der Engel

[Daseinsarchäologie im Auerland]

Ich schaue in ihre geöffneten Hände, Vogelschrein, zwischen ihren Fingern lockt sich das Verlangen der Brautfrisur, zwei gebogene Kämme ragen auf: die weichen Tatzen eines Maulwurfes, der auf dem Rücken liegt, geborgen in den zum Nest gefalteten Handflächen der Frau. Sie hat vor mir ihr Haupt entblösst, ich sehe die Nonnenzucht ihres Haares, so straff gebändigt, dass ich eher Gebetsbücher auf den Kuchentellern vermutete, als die Tortenstücke, die sie balanciert zur Kundschaft, die unbeweglich, geschnitzt, die Eine nach dem Ebenbild des Anderen / dona nobis pacem1Wortspende Tatjana Pelin / unter den Schirmen im Biergarten sitzt und auf die Zuckerdose pochend, Löffelstiel im Mund, die schwere Last erwarten: Heute Pfirsich mit Eierlikör und Sahne, trockenen Sandkuchen mit Cherries und Rotwein-Schoko-Glasur oder Himbeer-Philadelphia-Biskuittorte. Ich hatte mich weggeduckt und war aufs Klo geflohen, so erschreckt hatte mich die mächtige Pracht, die da auf mich zu kam in Form eines in Buttercreme gestürzten Engelsflügel, der vor dem ewigen Paradies, den Hinterbliebenen das irdische Leben zu versüssen versprach. Aufflackern der Kuchengabeln, Tellermine: Das rechte Hinterrad des Traktors von Willi S. hatte den Grund da berührte, wo er die tödliche Kriegswaffe barg. Die Mine zerfetzte das Gefährt, den Anhänger, nahm sich das Holz als Handwaffe dazu, der Willi S. – so steht es auf einer Tafel im Wald – blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Das Kreuz, welches der Verschonte hat errichten lassen an seinem Ort der Auferstehung, umarmt die Bäume.

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Tortenanstich, dem Engel zu Leibe gerückt, vergebliches Flehen: … seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.2Bertold Brecht / Über die Verführung von Engeln  An der Theke lehnend täusche ich eine plötzliche Übelkeit vor, weswegen ich die Torte nicht essen könne, aber natürlich bezahlen würde und eingedenk der Unberührtheit könne das Stück vielleicht einer anderen Person zur Vesper dargereicht werden. Mit freundlichen Grüssen.
„Das kriegen wir hin“, erwidert die Frau, deren ungerührter Pragmatismus mich so verunsichert, dass ich mich in mein Ich-Kind verwandle und schuldig fühle. Die Erinnerung einschneidender Strumpfbänder in meinen Kniekehlen, schnürt mir den Hals zu. Das Halbdunkel der Gaststätte lädt zum Verschwinden ein, während die Barhäuptige einer Gästin den Weg zur Toilette weist („Haben Sie hier eine Toilette?“ / „Ja, wir haben eine Toilette.“ / ‚Das ist ja toll!‘)3Konversation Besucherin/ Kuratorin im Lenneatelier am 11.5.2024] husche ich zwischen die Kulissen des Mobiliars, berge meinen Schatten unter einer der gewichtigen Tischplatten, verhülle mich mit Tafelwäsche und lausche im Schutze des herabhängenden Gewebes dem Echo von Faustschlägen und Wortwechseln im Kartenspiel. Ich greife nach einem Zipfel um / Schnäuztuch zu Trostgebet / die seit Jahrzehnten darin versickerte Bratensosse zu riechen. Ich baue ein Haus aus Bierdeckeln, poliere in Gedanken Salz- und Pfefferstreuer, zähle die in weisse Papiermäntelchen gehüllten Zahnstocher, die, gebändigt in ihrer Menage neben dem jahreszeitlichen Tischschmuck, Bürgschaft leisten / Das Licht bricht sich  im grüne Glas der Weingläser, aus der Unterwasserlandschaft ragt die polierte Theke, wie der letzte Zahn in greisem Mund, halbversunkene Insel, zerklüftete Landschaft, dishevelled, der schwere Korpus des Buffets und eben die Kuchenvitrine mit den drei Torten: Klotho, Lachesis und Atropos.



Das Schinesische Haar fühle sich an wie echt, davon solle ich mich selbst überzeugen.

Ich bekränze die Aufsteckfrisur in den Flügelhänden der Restaurantfachfrau mit meinem Lob, betrauere stumm den abgestürzten Traum von Liebe, sie wendet ihr Haupt für mich und rückt den ärmlichen Eigenhaarknoten an ihrem Hinterkopf in meinen Blick, als sollte ich in einen Holzapfel beissen. 



Der Boden schwankt, ich klammere mich an der Reling der Theke fest, um den Wellenkräften und in mir aufsteigenden Katapulten standzuhalten. Besteck klirrt, es weist der Helmsman im Gebärdensturm: hinfort!3Wortspende Uta Schütte
 Mit gesenktem Blick trete ich über die Schwelle vor die Geschworenen, die auf ihren Klappstühlen unter Sonnenschirmen ausharren, um Gericht zu sprechen darüber, wer weiter träumen darf und fliegen.

Im Entkommen höre ich einen unter ihnen das Wort an die Hermenine der Schankwirtschaft richten, die mit seinem Wunsch: ‚Wir möchten heute bei Ihnen Abendessen‘, in die Küche eilt, erst dann könne sie sich dazu äussern, sonst ‚reisse ihr die Küche den Kopf ab und sie haben nur den einen, an dem Sie, wenn er auch nicht besonders schön sei, doch hänge. Ob er das verstehe.‘

Forlorn – Ich kühle die Füsse im nahen Fluss, umwickle die Waden mit Pestwurz und streiche mir -– a fluff – mit dem weissem Flaum eines verblühten Löwenzahns über die Wangen, in solcher Geste, die, so hatte mir V. mit einer Gebärde ihrer Sprache4Gebärdenspende Viktoria S. gezeigt: ‚Liebe‘ heisst.

Auerland | 21.5. barblina c